Gabi Büttner, meine Mitautorin bei ‚Mondscheingift‘, liebt ja Antagonisten – je psychopathischer desto besser^^ Kein Wunder also, dass sie eine Challenge ins Leben gerufen hat, in der die Antagonisten zu Wort kommen LovemyVillain … ein Interview sollte es werden – und ich habe mich in die Höhle des Löwen gewagt.

Wilma Wetzel – und was sie mir auf meine Fragen geantwortet hat

Ich klingle an der Haustür des heruntergekommenen Gründerzeithauses, in dem besagte Dame lebt – und stehe mir erst einmal die Beine in den Bauch. Es dauert ewig, bis mir geöffnet wird. Nachdem ich die ausgeblichenen, knarrenden Holztreppen hinaufgestiegen bin, wird mir auch klar, warum … die Wohnungstür steht nur einen Spalt auf und eine keifende Frauenstimme fordert mich auf, einzutreten.

Meine Interviewpartnerin sitzt in einem Rollstuhl und mustert mich so durchdringend, dass ich mich wie eine Erstklässlerin fühle. Ohne mich zu begrüßen, rollt sie davon und verschwindet am Ende des Flurs in einem Zimmer. Ich folge ihr, bin versucht, den Atem anzuhalten, um so wenig wie möglich der miefigen, überheizten Luft einzuatmen. Je weiter ich mich dem Ende des Flurs nähere, desto stärker wird der Geruch nach Fäkalien, der sich in das Miasma mischt.

»Machen Sie die Tür zu«, befiehlt meine Gastgeberin, als ich die Stube betrete.

Das Wohnzimmer ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe – vergilbte Tapeten, die bestimmt seit 30 oder 40 Jahren an den Wänden hängen, dazu passende Möbel aus der gleichen Ära … alles wirkt alt und verwohnt, aber aufgeräumt. Nicht ein Stäubchen liegt auf den Eicheschränken.

Ich nehme auf einem der abgewetzten Plüschsessel Platz, zücke mein Notizbuch und setze ein höfliches Lächeln auf.

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, mir einige Fragen zu beantworten …«

»Ich hoffe, das dauert nicht so lange – ich habe weiß Gott besseres zu tun.«

Ich nicke. »Ich werde mich beeilen. Lassen Sie uns am besten sofort anfangen …«

Wieder unterbricht sie mich. »Bringen Sie mir zuerst ein Glas Wasser. Oder wollen Sie, dass ich verdurste?«

Die Frau hat eine Art an sich … vor allem, als sie mit dem Gehstock auf den Fußboden pocht – ich lasse mir den Weg in die Küche erklären und kehre mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern zurück.

»Habe ich Sie zum Trinken eingeladen?«, keift sie. »Ich habe nichts zu verschenken. Wenn Sie Durst haben, hätten Sie sich was mitbringen sollen.«

Ich schlucke, stelle ihr Wasserglas auf den Eichentisch.

»Wie soll ich da ran kommen? Schieben Sie es gefälligst näher! Und dann stellen Sie endlich Ihre Fragen. Am liebsten würde ich Sie wieder rauswerfen. Mitdenken ist wohl nicht Ihre Stärke.«

Sie scheint ein ausgesprochenes Talent dafür zu haben, die Leute zu beleidigen. Ich beschließe, mich davon nicht runterziehen zu lassen, das Interview so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und frage sie nach ihrem Namen und Spitznamen.

»Wetzel, Wilma Wetzel. Spitzname? Zeigen Sie mir denjenigen, der die Unverschämtheit besitzt, mir einen Spitznamen zu geben!« Sie hebt ihren Stock und holt aus, als ob sie damit schlagen wollte. Dabei fegt sie das Wasserglas vom Tisch.

»Sie Tollpatsch! Noch näher an den Rand hätten Sie es wohl nicht stellen können. Beseitigen Sie die Bescherung – oder soll ich das etwa selbst machen? Sie sehen doch, dass ich im Rollstuhl sitze!«

Ich folge ihrem Befehl – widerwillig, ich bin ja nicht das Dienstmädchen, oder? Aber ich brauche schließlich Antworten. Nachdem ich das Glas, das ich für mich mitgebracht hatte, für Frau Wetzel mit frischem Wasser gefüllt habe, fahre ich mit meinem Fragenkatalog fort.

Als ich ihr Alter wissen will, scheint sie völlig auszurasten.

»Es geht Sie gar nichts an, wie alt ich bin! Haben Sie nicht gelernt, dass man eine Frau nicht nach dem Alter fragt? Unhöflich ist das! Sie haben anscheinend keine Erziehung genossen! So etwas hätte es bei meinen Eltern nicht gegeben! Da herrschte Zucht und Ordnung, uns wurde noch Respekt vor dem Alter beigebracht! Aber das kennt die Jugend ja nicht mehr!« Wieder hebt sie den Stock. »Das sollte den Bälgern ordentlich eingebläut werden!«

Ich wechsle das Thema und frage sie, ob sie jemals woanders gelebt hat.

»Ich habe mein ganzes Leben lang in Peine gewohnt – Eine anständige Frau treibt sich nicht alleine in der Weltgeschichte herum. Das machen nur Flittchen.«

Ich erspare mir den Hinweis, dass eine Frau aus den verschiedensten Gründen aus ihrer Heimatstadt wegziehen könnte – das würde sie nur noch weiter auf die Palme bringen, und ich will eigentlich keine Minute länger in der Wohnung verweilen als nötig.

Bei der Frage, ob sie einer ausgedachten Rasse – Elf, Vampir oder ähnlichem angehört, stocke ich … wenn ich Frau Wetzel das frage, laufe ich Gefahr, dass sie mir ihren Stock über den Rücken zieht. Ich kann mir die Antwort auch selbst geben – sie ist eine Hexe. Stattdessen bitte ich sie, sich selbst zu beschreiben.

Frau Wetzel starrt vor sich hin. »Früher, da war ich bildhübsch. Nicht umsonst hat Harri sich in mich verguckt …« Sie verstummt, scheint ganz in ihren Erinnerungen versunken. »Fast rabenschwarze Haare hatte ich, groß und schlank war ich … Rehauge nannte er mich immer …« Ihr Kopf ruckt zu mir und sie mustert mich eisig. »Und jetzt? Krank und hinfällig, meine Beine tragen mich nicht mehr, die Haare dünn und schneeweiß – niemand schafft es, mir eine vernünftige Frisur zu machen. Immer muss ich selbst mit Kamm und Bürste hantieren, damit die Wellen ordentlich liegen.« Sie streckt mir ihre Hand entgegen, die mehr an eine Klaue erinnert. An dem dünnen Handgelenk baumelt eine schmale Golduhr. Es fehlt nicht viel, dass sie herunterrutscht. Wenn Wilma Wetzel mal eine Schönheit war, sind die Zeiten schon sehr lange vorbei …

Dann sieht sie mich höhnisch an und zeigt mir die Innenseite ihres Handgelenks. Ich sehe wulstiges, unregelmäßiges Narbengewebe, das sich quer über die Pulsadern erstreckt und blicke erschrocken auf.

»Was …« Ich räuspere mich, aber bevor ich fortfahren kann, fällt sie mir ins Wort.

»Ich wollte niemandem länger zur Last fallen. Leider hat es ebenso wenig funktioniert wie die Schlaftabletten. Es kümmert niemanden, wenn ich stundenlang in meinem eigenen Unrat liege, Durst und Hunger leide … Aber keine Angst, ich werde schon einen Weg finden – ich scheine ja für alle nur noch ein Klotz am Bein zu sein. «

»Das kann ich nicht glauben, Frau Wetzel«, widerspreche ich.

Sie kichert böse. »Sollten Sie aber. Sie werden schon sehen … und dann wird das Heulen groß sein, weil sie mich vermissen!«

Als ich Frau Wetzel nach ihren Stärken und Vorlieben frage, breitet sich auf ihrem Gesicht ein Ausdruck aus … eine Mischung aus Stolz und Gehässigkeit? Ich bin mir nicht sicher, wie ich ihn deuten soll.

»Ich habe einen sehr starken Willen. Ich habe immer bekommen, was ich wollte. Niemandem ist es gelungen, mich zu brechen – und denjenigen, die es versucht haben, ist es schlecht bekommen.«

Ich mustere sie unauffällig. Ob sie sich auf diese Art viele Freunde gemacht hat? Ich kann es mir nicht vorstellen. Aber vielleicht war sie in ihrer Jugend weniger herrisch und … unsympathisch?

»Haben Sie Vorlieben?«, möchte ich als Nächstes von Frau Wetzel wissen.

»Die gehen Sie nichts an.«

»Aber das ist doch nichts Verwerfliches – ich zum Beispiel …«

»Interessiert mich nicht. Sind Sie fertig mit Ihren Fragen? Dann können Sie ja gehen.«

»Nein, ein paar habe ich noch. Darf ich weitermachen?«

Sie verzieht das Gesicht und wedelt ungeduldig mit der Hand. Ich beeile mich und frage, ob sie bei irgendetwas schwach wird.

Sie lacht auf. »Ich mag es, mein Brötchen in den Kaffee zu stippen – und eine ganz spezielle Sorte Kekse aus der Konditorei. Das sind die einzigen Schwächen, die ich habe – wenn Sie es so nennen wollen.«

»Wie sieht es mit Hobbys aus?«, frage ich weiter.

»Hobbys?« Sie pocht mit ihrem Stock gegen den Rahmen ihres Rollstuhls. »Was soll ich wohl machen, eingepfercht in dieses Ding?«

Ich verkneife mir die Feststellung, dass sie lesen könnte, sich auch im Rollstuhl mit anderen treffen könnte und vieles mehr – wenn sie ernsthaft daran interessiert wäre. Ich habe immer mehr den Eindruck, sie gefällt sich in ihrer Rolle als hilflose Frau, die jeden nach ihrem Willen durch die Gegend scheuchen kann.

»Würden Sie mir etwas über Ihre Familie erzählen? Ihre Eltern, Geschwister, Kinder …«

Wilma Wetzel sieht mich an, als wäre es ein Verbrechen, sie danach zu fragen. Dann zuckt sie mit den Schultern.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich hatte keine Geschwister, meine Eltern waren sehr auf Zucht und Ordnung bedacht – etwas, das ich mit ihnen teile. Sehen Sie sich doch an, was der Mangel an Respekt verursacht. Meinem Sohn Matthias würde nie einfallen, sich gegen mich aufzulehnen – dafür habe ich seit seiner Kindheit gesorgt.«

»Was ist mit Ihrem Mann?«, will ich wissen.

Ihr Blick schweift in die Ferne. »Harri – Oh, er war charmant, ein liebevoller Ehemann und Vater.«

»Ist er verstorben?« Ich sehe mich im Wohnzimmer um – es gibt nirgendwo Familienfotos, nur ein altes verstaubtes Ölgemälde an der Wand.

Frau Wetzels Blick kehrt aus der Erinnerung zurück und fixiert mich eisig. »Nein, er hat Matthias und mich verlassen – ist mit irgendeiner Schlampe abgehauen. Ich bemerkte zu spät, dass er seine dreckigen Finger nicht von anderen Weibern lassen konnte.«

»Sie erwähnten Ihren Sohn, Frau Wetzel – Matthias?«

Ihre Augenbraue hebt sich. »Warum fragen Sie nach ihm? Er geht Sie nichts an. Ich dachte, Sie wollten etwas über mich erfahren.«

»Nun ja, er gehört doch zu Ihrer Familie …«

»Selbstverständlich – und er würde mich niemals verlassen. Er tut alles für mich – Matthias ist ein braver Junge. Es ist nicht seine Schuld, dass er in diesen Laden gehen und Geld verdienen muss, um meine Gesellschafterin zu bezahlen. Hätte Harri seine Pflicht erfüllt und uns nicht im Stich gelassen, könnte Matthias den ganzen Tag zuhause sein. Wir würden fernsehen, Fotos anschauen, Reisen planen … nicht dass wir das Geld dafür verschwenden würden, es hat uns immer gereicht, uns auszumalen, was wir in fernen Ländern unternehmen könnten. Die Ferien waren immer die schönste Zeit in Matthias‘ und meinem Leben.«

Ich versuche, mir vorzustellen, wie das gewesen sein muss – auch für ihren Sohn.

»Verstehe ich Sie richtig? Sie sind niemals weggefahren?«

»Warum sollten wir? Wir haben hier alles, was wir brauchen.«

»Aber Ihr Sohn … wollten Sie ihm niemals die Welt zeigen?«

Frau Wetzel schnaubt abfällig. »Die Welt ist schlecht und verdorben. Welchen Einfluss hätte sie auf Matthias gehabt? Er ist dem gar nicht gewachsen. Es war schon eine Zumutung, dass er an den Klassenreisen der Schule teilnehmen musste. Er war immer todunglücklich, wenn er sich von mir trennen musste – ist es noch heute. Er ist eben ein braver Junge.«

Braver Junge – na klar, denke ich – eher ein armer Kerl.

»Wo wohnt Ihr Sohn, Frau Wetzel?«

Sie sieht mich verständnislos an. »Hier«, antwortet sie. »Wo sollte er sonst leben? Er wüsste doch gar nicht, was er ohne mich machen sollte. Ich muss ihm ja noch heute sagen, was er anziehen soll, was er zu machen hat …«

Wie alt Matthias wohl sein mag? Frau Wetzel wirkt zwar alt und gebrechlich, aber ich schätze sie auf Mitte oder Ende sechzig, also ist ihr Sohn mit Sicherheit kein halbwüchsiger Teenager, sondern ein erwachsener Mann – der zulässt, dass seine Mutter ihn so behandelt? Oder tischt sie mir Märchen aus ihrer Fantasiewelt auf? Sind ihre Aussagen eher ein Wunschtraum und sie lebt in Wahrheit allein in dieser großen Wohnung? Wäre Frau Wetzel meine Mutter – ich hätte mit Sicherheit schon längst das Weite gesucht.

Nach einem kurzen Blick auf meinen Fragenkatalog fahre ich fort: »Gibt es irgendetwas, das Sie in Ihrem Leben ändern würden, Frau Wetzel? Welchen Rat würden Sie Ihrem jüngeren Ich geben? Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?«

Frau Wetzel zuckt mit den Schultern. »Was sollte ich ändern wollen? Ich bin glücklich, so wie es ist. Das Einzige, was mich stört, ist dieser elende Rollstuhl. Wenn ich auf den nicht angewiesen wäre … Und meine Zukunft? Nun, ich werde mich um meinen Sohn kümmern, dafür sorgen, dass er nicht von fragwürdigen Personen ausgenutzt und hintergangen wird – solange, bis meine Zeit gekommen ist.«

Ich erinnere mich an die Narben auf ihrem Handgelenk. Wenn sie Erfolg gehabt hätte – wer hätte sich dann um ihren Sohn gekümmert? Oder hatte sie mit ihren Selbstmordversuchen etwas anderes bezweckt? Ich werde aus der Frau nicht schlau und beschließe, eine letzte Frage zu stellen, bevor ich Wilma Wetzel wieder verlasse.

»Was bringt Sie zum Lachen?«

»Zum Lachen?«, wiederholt Frau Wetzel und verzieht das Gesicht zu einem gehässigen Lächeln. »Leute wie Sie, die versuchen, mich zu manipulieren, etwas aus mir herauszukriegen – Lassen Sie sich gesagt sein, dass Sie früher aufstehen müssen, wenn Sie mich übertölpeln wollen. Mir macht niemand was vor – Sie wollen auch nur irgendwelche Sensationen und Geheimnisse erfahren oder mich von meinem Sohn trennen – so wie die ganze Bagage um Jasmin Schubert! Aber das wird Ihnen nicht gelingen. Und jetzt verschwinden Sie und unterstehen Sie sich, mich jemals wieder zu belästigen!« Sie fuchtelt mit dem Gehstock vor meiner Nase herum und ich beeile mich, aufzustehen und zu verschwinden.

Mondscheingift – Interview mit Wilma Wetzel
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